PODCAST | Folge 1 | Sonja Howard

„Ich war ein unschuldiges Kind und hätte Schutz verdient”

Zuhause ist man sicher? Von wegen. In der eigenen Familie werden Kinder und Jugendliche am häufigsten missbraucht. Sonja Howard ist Mutter von vier Kindern - und war in ihrer Kindheit selbst sexueller Gewalt ausgesetzt. Bei einbiszwei erzählt sie ihre Geschichte, erklärt, wo man Hilfe findet und wie man mit Kindern über Sexualität spricht.




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Sonja Howard [00:00:00] Das hatte nichts mit mir zu tun, absolut gar nicht. Es hat nur mit dem Täter zu tun. Und es hat nur mit den Mitwissern zu tun. Ich war ein unschuldiges Kind und was ich verdient hätte, wäre Schutz und Leute, die sich vor mich stellen.

Nadia Kailouli [00:00:16] Hi, herzlich willkommen bei einbiszwei, dem Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt gegen Kinder und Jugendliche. Einbiszwei. Ja, genau. Ein bis zwei Kinder sind in jeder Schulklasse in Deutschland sexueller Gewalt ausgesetzt. Wieso das so häufig passiert und was man gegen sexuelle Übergriffe tun kann, das erfahrt ihr hier bei einbiszwei. Ich bin Nadia Kailouli und in diesem Podcast spreche ich mit Expert:innen, Journalist:innen und Betroffenen. Wir reden über akute Missstände, Anlaufstellen und persönliche Geschichten. Wenn es euch damit aber nicht gut gehen sollte – wir haben in den Shownotes Telefonnummern und Hilfsangebote verlinkt, wo ihr Hilfe findet. Hier ist einbiszwei. Schön, dass du uns zuhörst. Die Familie ist für die allermeisten Menschen das Wichtigste im Leben. Das sind Menschen, zu denen die allermeisten ein Urvertrauen haben. Die Familie ist der ultimative Schutzraum, könnte man meinen. Umso schlimmer ist es, wenn dieser vermeintliche Schutzraum in sich zusammenfällt. Bei uns ist heute Sonja Howard zu Gast. Sie ist Expertin für Kinderschutz und Prävention von Gewalt und Missbrauch und macht dazu auch einen Podcast. Hallo, Sonja.

Sonja Howard [00:01:25] Hallo.

Nadia Kailouli [00:01:26] Schön, dass du da bist. Wir haben dich eingeladen und wenn man sich meine Worte vorher anhört, mit dem Thema Familie und diesen Schutzraum, dann müssen wir dazu sagen, dass du eben Expertin bist, weil du eben auch eigene Erfahrungen gemacht hast. Kannst du uns deine Geschichte erzählen erst mal?

Sonja Howard [00:01:44] Ja, ich kann die ganz grob umreißen. So eine ganze Kindheit und Jugend ist natürlich sehr lang. Ich bin eine von den Menschen und es sind sehr, sehr viele in Deutschland, für die die Familie eben kein Schutz Ort war, sondern der Ort, in dem sie Gewalt und Missbrauch erfahren haben. Und bei mir ging es los im Alter von vier Jahren durch mein Stiefvater mit körperlicher Gewalt, psychischer, emotionaler Gewalt und eben auch sexuellem Missbrauch. Dazu kam noch religiöses brainwashing, also so die ganze Bandbreite. Und das ist sehr krass, wenn man als Kind auf jeden Fall diesen einen Alltag hat und dann noch die Realität draußen und dann versucht man das anzugleichen und das funktioniert mal mehr, mal weniger gut. Man hätte anhand meiner Geschichte eigentlich so eine Fallstudie machen können, weil ich war von der super angepassten Einser-Kandidatin, die immer freundlich war und empathisch ihren Mitschülern geholfen hat, bis zur Sechser-Kandidatin, die dann Schule geschwänzt hat und geklaut hat, war ich wirklich alles und alles natürlich aus dieser Verzweiflung heraus geboren, dass da doch mal irgendjemand bitte hinschauen möge. Und das haben leider viel zu wenige Menschen gemacht.

Nadia Kailouli [00:02:55] Bevor wir da nochmal ins Detail gehen, würde ich gerne erst mal von dir wissen. Ich hatte heute morgen einer Bekannten erzählt, was ich gleich mache. Ja, so was mein Job ist, dass ich hier diesen Podcast mache und zum Beispiel heute mit dir spreche. Und die erste Reaktion war so : Boah, warum? Also echt, das erzählt die dann einfach so? Und da dachte ich so, ja und warum eigentlich nicht? Wie ist dir das so begegnet? Hat man dir daraus auch einen Vorwurf gemacht, dass du deine Geschichte, oder Vorwurf ist vielleicht der falsche Begriff, aber hat man mit Erstaunen darauf reagiert, warum man seine Geschichte nach all den Jahren so in die Öffentlichkeit bringt?

Sonja Howard [00:03:31] Ja, auf jeden Fall. Also es gibt Menschen, die das nicht nachvollziehen können und die sagen, also es gibt natürlich dann immer die Vorwürfe, man wolle sich einfach nur aufspielen und wichtig tun. Und wenn man es sonst quasi schon nicht in die Medien schafft, dann wenigstens mit seiner eigenen Drama-Geschichte. Und es gibt auch Menschen, die mir gesagt haben, ach, das ist alles so schlimm, das will ich alles gar nicht wissen. Und genau da sage ich dann immer, und genau deswegen müssen wir darüber reden, weil dieses nicht wissen wollen ist der Grund, warum so viele Kinder jahrelang unentdeckt bleiben, obwohl sie massive Anzeichen von Missbrauch und Gewalt zeigen, warum sie verhaltensauffällig sind. Genau das ist der Grund, warum es oft so viele Meldungen braucht, bis tatsächlich einem Kind mal geholfen wird. Weil die meisten Menschen in Deutschland es sich nicht vorstellen können und wollen, dass die eigenen Eltern die Gewalttäter sind.

Nadia Kailouli [00:04:22] Jetzt hast du gerade gesagt, damit schafft man es in den Medien, man muss jetzt dazu ganz, und es ist mir ganz wichtig zu sagen, du schaffst es damit nicht nur in die Medien, sondern du schaffst es damit vor allem Präventionsarbeit zu leisten. Du klärst auf, du appellierst, du machst Missstände sichtbar eben. Und das ist für mich der wichtigere Punkt, warum wir darüber sprechen und warum das auch so wichtig ist. Kannst du uns, ich weiß, das hast du ja schon gesagt,es ist ein jahrelanger Prozess gewesen, so eine Kindheit, die erzählt man nicht in zwei Minuten. Aber kannst du uns vielleicht noch mal so ein bisschen die, ja, ein bisschen damit der Zuhörer besser versteht, warum das heute so wichtig ist aufzuklären, was genau dir passiert ist, was dein Stiefvater gemacht hat?

Sonja Howard [00:05:01] Ja, also mein Stiefvater hat, das war so ein bisschen der klassische Fall. Wir wissen ja aus auch aus der aktuellen Studie der Aufarbeitungskommission, dass der Haupttatort die eigene Familie ist und die Haupttäter eben auch leibliche Väter und Stiefväter sind. Und er hat wirklich das auf diese in Anführungsstrichen freundliche Art und Weise gemacht, diesen Missbrauch, dieses Grooming in den Missbrauch hinein. Und als Kind ist ja das für dich die Normalität, was du eben erlebst. Also Kinder sagen ja nicht, och Mensch, das ist jetzt in Ordnung, was mir passiert und das ist aber nicht in Ordnung. Alles, was dir als Kind passiert, das ist dein Leben, das ist eine Normalität und deswegen hinterfragt man das auch nicht. Und das heißt, der sexuelle Missbrauch, der ging über Jahre, der nahm zu an Intensität und es war eben mit sehr viel Manipulation verbunden. Und auf der anderen Seite war diese krasse körperliche Gewalt, wir wurden geschlagen, also auch meine Geschwister und ich, wir wurden teilweise stundenlang angeschrien. Es war wirklich reinster Psychoterror zu Hause. Wir durften keine Widerworte geben, wir hatten immer zu gehorchen. Unter allen Umständen. Und wir waren auch schutzlos, weil unsere Mutter uns eben auch nicht schützen konnte, weil sie auch selbst Opfer war.

Nadia Kailouli [00:06:08] Das ist wahrscheinlich die Frage von vielen jetzt, was ist denn mit der Mutter? Wo war denn die Mutter?

Sonja Howard [00:06:14] Ja, die Mutter hat sehr viel verdrängt über sehr viele Jahre. Und ja, wie das leider in vielen Familien der Fall ist.

Nadia Kailouli [00:06:24] Wie ist dein Verhältnis heute zu deiner Mutter?

Sonja Howard [00:06:27] Heute haben wir ein gutes Verhältnis miteinander. Das können auch sehr viele Menschen nicht nachvollziehen. Aber wir haben das aufgearbeitet. Also ich bin mit ihr wirklich über Jahre intensiv im Gespräch gewesen. Und wenn irgendeine Erinnerung hochkam, wenn ich eine Panikattacke hatte, wenn ich irgendwie, dann konnte ich sie anrufen und sagen, Mama, mir ist gerade das und das eingefallen, lass uns drüber sprechen. Und sie hat sich dem auch gestellt und das ist wahnsinnig schmerzhaft. Ich bin ja selber Mutter von vier Kindern. Und auch wenn ich jetzt im Großen und Ganzen eine gute Mutter bin oder glaube, eine gute Mutter zu sein, habe ich natürlich trotzdem auch sehr, sehr viele Dinge falsch gemacht. In sehr vielen Momenten meine Kinder nicht gesehen, falsch verstanden, bin auch mal ausgerastet, habe ihnen einfach auch Unrecht getan. Und es ist sehr schmerzhaft, wenn die Kinder einem das widerspiegeln. Und das kenne ich im Kleinen und deswegen ist mein Respekt für meine Mutter da eigentlich noch umso größer, dass sie dieses Totalversagen auch angegangen ist und dann natürlich sich auch entschuldigt hat. Und es ist ganz einfach, man hat die Mutter, die man hat. Und die andere Option wäre, gar keine Mutter zu haben, gar keinen Kontakt zu ihr zu haben. Und da sie sich entschuldigt hat und da wir das aufgearbeitet haben zusammen, ist es für mich auch völlig in Ordnung. Also jetzt habe ich quasi die Mutter, die ich damals eben nicht hatte und das ist für mich auch heilsam.

Nadia Kailouli [00:07:49] Jetzt geht es ja gerade bei sexualisierter Gewalt bei Kindern in der Präventionsarbeit sehr oft darum, Kinder überhaupt zu sensibilisieren, sich zu äußern, etwas zu sagen, versuchen zu verbal auszudrücken, da wird was mit mir gemacht. In deinem Fall musstest du es ja gar nicht sagen, sondern es wurde ja, war ja sichtbar oder? 

Sonja Howard [00:08:07] Oder die Gewalt war sichtbar, der Missbrauch natürlich nicht. Ich habe zwei, drei Mal das angesprochen und ich war noch sehr jung und sie hat das zwar ernst genommen, dachte dann aber, es würde sich dann erledigen, wenn sie ihn darauf anspricht. Also das war einfach auch sehr naiv. Und ja, die die Zuhörer:innen, die sich das jetzt nicht vorstellen können, die können sich ja mal überlegen, also die meisten werden ja in der Partnerschaft sein oder auf jeden Fall einen Ex-Mann auch, Ex-Frau haben. Und wenn jetzt das Kind plötzlich eine Bemerkung macht, man muss da mal in sich gehen und sich überlegen, würde ich das dann sofort ernst nehmen oder würde ich denken, ach, das Kind hat irgendwo einen Film gesehen, hat irgendwo in der Kita was gehört. Wie würde ich denn reagieren? Würde ich das denn zulassen, dass eventuell mein ganzes Weltbild zusammenbricht und ich eventuell mit einem Täter verheiratet bin oder war?

Nadia Kailouli [00:08:57] Lass uns genau da ansetzen. Du hast eben so schön gesagt, dass du das Verhältnis zu deiner Mutter, dass es eben deswegen so gut ist, weil ihr aufgearbeitet habt, weil sie sich dem auch gestellt hat. Vielleicht kannst du uns mitnehmen, wann für dich klar wurde, du willst in diese Aufarbeitung gehen. Du willst vor allem das nicht nur mit dir teilen, sondern daraus ja dann auch beruflich, kann man ja sagen, mit arbeiten, weil du ja Expertin bist, nicht nur, weil du dich intensiv mit dem Thema auseinandergesetzt hat, sondern weil du dieses Thema ja wirklich auch erlebt hast.

Sonja Howard [00:09:28] Das war bei mir ganz klar das Gerichtsurteil. Ich habe nämlich mein Stiefvater angezeigt, da war ich 23 und da dachte ich, jetzt wird alles gut, jetzt wird endlich Recht gesprochen. Wir haben ja Gesetze in Deutschland und es gibt ja eine staatliche Wächterfunktion. Und jetzt endlich gibt es Gerechtigkeit. Und zwei Jahre später war dann die Gerichtsverhandlung und das war eine absolute Katastrophe. Mein Stiefvater hat zwei Jahre auf Bewährung bekommen, obwohl er alles gestanden hat. Und wir reden hier ja von 18 Jahren wirklich immensester Gewalt. Also das ist nicht, das sind nicht Taten gewesen, die so alle Schaltjahr mal irgendwie vorkamen, wo man sagen kann, die kann man jetzt an einer Hand abzählen, sondern das war ja wirklich mein Alltag. Und dafür dann zwei Jahre auf Bewährung, das war für mich so ein Schlag in die Magengrube. Und auch wie der Richter am Landgericht mit mir umgegangen ist. Das muss man sich vorstellen, man sitzt dort in der Mitte vor einem der Richter, zwei Schöffen, rechts der Täter und sein Anwalt und links die eigene Anwältin. Das heißt, die, die eventuell gegen einen sind, sind in der krassen Überzahl. Und für mich war es so, ich habe zum Ersten Mal meinen Stiefvater wieder gesehen, nach all den Jahren. Das war für mich die ultimative Stresssituation und ich bin auch erst mal in Tränen ausgebrochen, weil ich das nicht verkraftet habe. Und der Richter fährt mir über den Mund und sagt, ja, jetzt hören Sie mal auf zu heulen, das bringt uns jetzt auch nicht weiter. Und im nächsten Satz soll ich dann die intimsten Details meines Lebens vor diesem Mann ausbreiten. Das war eine absolute Tortur. Und dann dieses Urteil, und dann steht im Urteil drin, also wirklich, das ist reinstes Victim Blaming, was die da gemacht haben, meiner Meinung nach. Das steht dann drin, da ich ja mittlerweile ausgezogen bin, kann davon ausgegangen werden, dass es nicht zu weiteren Taten kommt oder dass ich mich ab meinem 14. Lebensjahr nicht mehr aktiv gewehrt habe, das wurde mir dann auch negativ ausgelegt. Wo ich mir denke, mit 14, da war ich bereits zehn Jahre in diesem Albtraum gefangen. Und natürlich, was macht man denn als Kind, wenn man versucht, sich Hilfe zu holen? Ich bin ja sogar zur Polizei gegangen mit zehn Jahren und wurde wieder nach Hause geschickt. Was macht man denn, wenn so viele Versuche schief liefen? Irgendwann fügt man sich in sein Schicksal, wortwörtlich. Und dass einem das dann vom Gericht negativ ausgelegt wird, das ist eine Unverschämtheit.

Nadia Kailouli [00:11:51] Mir brennt es gerade so auf den Lippen, dass wenn Menschen das jetzt hören, die das auch erlebt haben, die sich aber vielleicht noch nicht getraut haben, das öffentlich zu machen, sich irgendjemandem anzuvertrauen, geschweige denn das anzuzeigen, bekommt man nicht wirklich Mut, wenn man deine Geschichte hört. Auch dass du als 10-jährige zur Polizei gegangen bist, dann als 23-jährige deinen Stiefvater angezeigt hast. Und wenn man jetzt hört, was du aber erfahren hast, würden sich wahrscheinlich viele denken, oh Gott, ich behalte das für mich, ich gehe da nicht zur Polizei.

Sonja Howard [00:12:19] Ja, das ist für mich auch immer ein Dilemma, weil auf der einen Seite brauchen wir natürlich auch die offiziellen Zahlen. Damit diese berühmte Dunkelziffer zur Ziffer wird, brauchen wir Anzeigen. Aber wenn man sich anschaut, wie viele Strafverfahren wegen Kindesmissbrauch auch eingestellt werden und die, die es vor Gericht schaffen, wie viele dann mit Bewährungsstrafen nach wie vor davonkommen. Wenn man es macht, dann muss man es wirklich machen mit der Haltung, ich erwarte nichts, ich erwarte keine Gerechtigkeit. Dann kann man es machen und gucken, dass man in Therapie geht, währenddessen, dass man begleitet ist auf jeden Fall, dass man jemanden hat, er einen auffängt und eben nicht so naiv wie ich damals rangegangen bin, so, jetzt bekomme ich endlich Gerechtigkeit.

Nadia Kailouli [00:13:01] Also ist deine Botschaft, anzeigen ist wichtig, sichtbar machen ist wichtig. Aber man darf nicht erwarten, dass dann ein heilsames Urteil gesprochen wird, sondern das Urteil ist eigentlich dann egal?

Sonja Howard [00:13:15] Es muss einem egal sein. Ich glaube, weil sonst wird das passieren, was mir passiert ist. Für mich war das ein absoluter Einbruch. Das hat mich ganz arg zurückgeworfen in meinen Heilungsprozess. Und dann stand ich vor dieser großen Frage, gehe ich daran jetzt kaputt oder ziehe ich mich noch ein letztes Mal aus dem Sumpf am eigenen Schopf? Und dazu habe ich mich dann zum Glück entschieden. Und das Strafverfahren war 2014 und ich habe dann ein bisschen gegooglet, weil ich gedacht habe Mensch, ich kann ja nicht die einzige sein in Deutschland, der es so ergeht. Und habe dann lauter solche hanebüchener Urteile gelesen, die alle auch nur ein paar Jahre alt waren, wo ich dachte Mensch, da muss man doch irgendwas machen. Und dann habe ich dem Missbrauchsbeauftragten eine Email geschrieben und gesagt, hier, das ist mein Fall, das ist mir passiert, was kann man machen? Und dann kam tatsächlich eine Antwort zurück, wir gründen gerade einen Betroffenenrat, bewerben Sie sich doch! Und das habe ich gemacht und bin seit 2015 im Betroffenenrat beim UBSKM und versuche meine Erfahrungen eben auch mit in die Politik einzubringen.

Nadia Kailouli [00:14:20] Wie ist deine Erfahrung damit? Wie viel Schmerz erlebt man dadurch, weil man ja dadurch tagtäglich dann eben mit seiner Geschichte konfrontiert ist? Das weißt du wahrscheinlich so oder so schon, so eine Geschichte lässt einen nicht mehr los. Das ist Teil eines Lebens, deines Lebens. Aber wann war für dich der Prozess da, dass du gemerkt hast, das ist jetzt genau richtig und gut so, dass ich jetzt hier im Betroffenenrat sitze?

Sonja Howard [00:14:42] Das war ziemlich von Anfang an, weil es dann für mich dieses "Turning Pain into Power" war, wo ich gesagt habe, ich nutze jetzt all diesen Schmerz und bewirke damit etwas Gutes für die Menschen, die jetzt aktuell davon betroffen sind. Und ich versuche auch ein Stück weit ein Vorbild zu sein. Und die ganzen Emails, die ich bekomme, die ganzen Nachrichten, die ich bekomme, ich habe dich da gesehen im WDR, bei Frau TV und bei mir ist das schon 40 Jahre her und ich habe noch mit nie jemandem drüber gesprochen, aber mich hat das so ermutigt. Dann denke ich, genau dafür zum Beispiel mache ich das. Und je mehr Leute sprechen, umso mehr ist die Gesellschaft allgemein auch gezwungen, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Und dann sind wir eben an dem Punkt, wo dann Leute eben nicht mehr so einfach sagen können Ach, davon möchte ich einfach gar nichts wissen am liebsten.

Nadia Kailouli [00:15:29] An diesem Punkt sind wir immer noch. Das ist immer das, was mich so umtreibt. Warum scheuen wir uns so, darüber zu sprechen? Du hast dich ja vor allem mit vielen Menschen auch ausgetauscht, die selber sexualisierte Gewalt Erfahrungen gemacht haben. Was glaubst du, wie wird dieses Thema nahbar, dass man keine Angst davor hat zuzuhören?

Sonja Howard [00:15:49] Ich glaube, wir sind schon mal auf einem sehr guten Weg mit dem Podcast hier. Steter Tropfen höhlt den Stein. Und ich glaube, dass sehr viele Menschen wissen, also es gibt sehr viele Familiengeheimnisse und es gibt sehr viele Familien, in denen über gewisse Dinge nicht gesprochen wird. Und ich kenne, gut natürlich auch meinem Beruf geschuldet, aber ich kenne tatsächlich mehr kaputte Familien als heile Familien, wo wirklich alles in Ordnung ist. Und das muss natürlich nicht immer so ein Knaller wie Missbrauch sein. Aber Menschen haben natürlich eine Scheu, die Wunden anzufassen, die es in ihrer Familiengeschichte gibt. Aber es ist unfassbar heilsam und ich kann jeden nur ermutigen, diesen Schritt zu gehen. Darüber zu sprechen, weil als Kind denkst du automatisch, mit mir stimmt ja was nicht. Es muss ja einen Grund geben, warum ich missbraucht werde. Und du hast als Kind unfassbare Schuldgefühle und gleichzeitig fühlst du dich dann erst mal, das war zumindest bei mir so, ich habe mich gefühlt wie eine Verräterin, als ich das erste Mal mit einer externen Person darüber gesprochen habe. Ich habe gedacht, jetzt geht gleich der Boden unter mir auf, weil ich hier das größte Tabu breche. Und das wird ja auch so vermittelt von außen. Was in der Familie geschieht, das bleibt in der Familie. Nestbeschmutzerin. Das sind ja auch so ein bisschen diese Schlagwörter, die da so rumschwirren. Aber wenn man das einmal geschafft hat und dann realisiert, natürlich auch in dem eigenen, sich damit befassen und sehen, es gibt so viele Tausende, es gibt Millionen von Menschen, die was Ähnliches erlebt haben, dann ist man irgendwann an dem Punkt, wo man kapiert, das hatte nichts mit mir zu tun, absolut gar nichts. Es hat nur mit dem Täter zu tun und es hat nur mit den Mitwissern zu tun. Ich war ein unschuldiges Kind und ich konnte für gar nichts irgendwas und was ich verdient hätte, wäre Schutz und Leute, die sich vor mich stellen. Und wenn man irgendwann mal diese Haltung hat innerlich, dann kann man auch nicht mehr zurück. Und dann ist völlig klar, also dass, jetzt ist dieser dieser Wendepunkt erreicht, an dem man sich auch nicht mehr schämt. Denn es gibt nichts zu schämen.

Nadia Kailouli [00:17:52] Es gibt eben diese Missbrauchsfälle in der Familie. Und es gibt die Missbrauchsfälle, die eben in anderen Räumen, wo man auch denkt, man ist da geschützt, stattfindet, wie zum Beispiel in der Kita, im Turnverein. Kann man überhaupt einen Unterschied festmachen in dem Missbrauch, ob der jetzt in der Familie stattfindet oder woanders stattfindet?

Sonja Howard [00:18:12] Ja, kann man. Das ist auch wissenschaftlich erwiesen, tatsächlich, dass wenn die Familie tatsächlich dieser Schutzort ist und im Idealfall natürlich dem Kind dann auch geglaubt wird, wenn es sich hilfesuchend an die Eltern wendet, dann kann das Kind diesen extern stattgefundenen Missbrauch sehr gut verarbeiten. Dann muss daraus nicht eine komplexe PTBS mit dissoziativet Störung und sonstigem werden, dann kann das sehr gut integriert werden. Wenn aber dieser Schutzort eben nicht stattfindet und der Missbrauch der Alltag ist und die Menschen, zu denen man dieses Urvertrauen ja hat, die einen im Stich lassen, das hat auf jeden Fall, also das hat schwere Folgen, sage ich mal. Man darf natürlich Missbrauch nicht vergleichen. Also man darf niemals sagen, och, meine Geschichte ist viel schlimmer als deine, aber es hat noch mal eine andere Qualität, es hat noch mal eine andere Schwere, wenn die Leute, die wirklich auch per Gesetz dazu verpflichtet sind, dich zu schützen, diesem Schutzauftrag nicht nachkommen. Das macht noch mal was anderes mit dir. Das gleiche gilt natürlich auch für diese ganzen Fälle in Internaten, die ja dann quasi auch wie so Ersatzfamilien  sind, wo das dann der Ersatzschutzort ist oder auch Pflegefamilien oder auch Heime, also dort, wo sich Kinder 24/7 aufhalten.

Nadia Kailouli [00:19:34] Ich würde gerne ein bisschen mehr darauf eingehen, dass du eben ganz, ganz engagiert darin bist, eben Prävention zu machen. Und da ist aber bei vielen eben das größte Fragezeichen, weil man sich fragt, ja, woran erkenne ich denn, dass es diesem Kind nicht gut geht, dass diesem Kind vielleicht etwas passiert ist? Das ist so schwierig, weil es sind ja eben Kinder. Und wie du schon gesagt hast, man denkt dann, ach, die hat jetzt einen Film geguckt, da gab es irgendein komisches Buch in der Kita, da hat die Mitschülerin, die Freundin, der Freund irgendwas erzählt und sie macht jetzt hier so ein Wirrwarr-Satz. Woran erkennt man das? Du bist Mutter von vier Kindern.

Sonja Howard [00:20:11] Also das ist erst mal ein großer Mythos, dass Kinder nicht reden. Kinder reden sehr viel. Es sind die Erwachsenen, die nicht zuhören. Also, ich war in ganz vielen Gesprächen schon auch mit Leuten aus Kinderschutzambulanzen, die dann sagen, wir haben hier teilweise Fälle, da hat sich ein Kind schon über ein Jahr einer Erzieherin immer und immer wieder anvertraut. Und die Erzieherin ruft dann doch irgendwann an und sagt auf die Frage, warum sie sich denn nicht schon früher gemeldet hat, ja ich kenne ja den Vater, das ist so ein netter Mann, das kann ich mir gar nicht vorstellen. Wo ich mir auch denke, gute Frau, es ist nicht deine Aufgabe, ob du dir das vorstellen kannst, ob jemand Täter ist oder nicht. Wenn ein Kind dir Missbrauchshandlungen erzählt, detailreich, dann hast du zu reagieren, dann hast du deinem Schutzauftrag nachzukommen. Und da sind wir genau wiedee bei dieser Sperre in den Köpfen. Und dann auch dieser Glaube, dass Eltern ja immer nur das Beste für ihr Kind wollen. Und wenn es zu Gewalt kommt, dann ja nur aus Überforderung. Nein, es gibt Eltern, die nicht Eltern sind, die einfach wirklich nur bösartige Menschen sind, die wirklich ekelhafte Dinge mit Kindern tun und egal wie nett die nach außen auftreten. Das ist einfach auch ein Teil von Täterstrategien. Und da fehlt aber auch wieder das Wissen. Und da ist auch wieder die Politik gefragt und das sagen Fachleute schon seit zehn Jahren, wir müssen das Thema in die Ausbildungen bringen, wir müssen das Thema in die Studiengänge bringen. Wir haben Sozialarbeiter:innen, die Kinderschutz als Wahlfach hatten, ein kleines nebenher Modul und das kann nicht sein. Ich habe einen Freund der in der Kita arbeitet, die haben so viele Fälle, Kinderschutzfälle, Kinder die extrem auffällig sind, wo es dann immer wieder an der Leitung scheitert. Die Kommunikation mit dem Jugendamt funktioniert nicht richtig. Das wird immer "Ach, nee. Wir wollen ja nicht die Brennpunkt Kita sein" und da gibt es so viel, auf diesem Weg, bis einem Kind geholfen wird, wirklich langfristig und nachhaltig geholfen wird, kann so viel schief gehen.

Nadia Kailouli [00:22:15] Jetzt würde ich gerne noch mal ein ganz anderes Bild aufmachen, auch beim Thema Erzieherinnen und dann gehen wir auch gerne weiter. Aber du meintest gerade so "Ach, wir wollen nicht schon wieder die Problemkita sein." Ich denke jetzt gerade, ich komme aus einem schicken Teil in Hamburg, Eppendorf. Ja, da würde man wahrscheinlich bei niemanden denken, oh da ist ein Täter, weil es ist alles clean, es ist so schön familiär, es ist gemütlich, es ist irgendwie so ein Dorf. Aber gerade da ist ja auch der Hinweis hinzuschauen. Und da denke ich gerade an so eine Erzieherin, die sich denkt, so, ich kann doch jetzt nicht, meine Vorgesetzte, die denkt ja auch, so, jetzt setz dich mal hin, du spinnst doch, so eine nette Familie. Also wie geht man damit um, wenn man selber spürt irgendwie weiß ich nicht, irgendwie ist da was, aber ich will eben die Familie nicht zerstören. Oder die Angst davor, vielleicht ist mein Verdacht ja auch gar nicht richtig, vielleicht ist mein Verdacht falsch und dann habe ich hier so einen Verdacht hin geknallt und vielleicht verliere ich meinen Job oder keine Ahnung was, weißt du wie ich meine? Also wie geht man damit um, ein Verdachtsfall zu äußern, ohne jemanden direkt damit zu beschuldigen tatsächlich?

Sonja Howard [00:23:13] Das ist immer sehr, sehr schwierig. Am besten ist es natürlich, wenn man dann erst mal beim weiter herausfinden, ob denn was dahinter ist, einfach anonym vorgeht. Einfach mal nur, also man muss ja nicht direkt mit Namen und Anschrift in alle Richtungen und hier, und das habe ich bemerkt, das wäre natürlich extrem unklug. Und natürlich gibt es auch Fälle, in denen beispielsweise, das ist ein Fall, der mir selber auch bekannt ist, in dem ein Junge berichtet hat, dass er von einem Fremden auf dem Spielplatz missbraucht wurde, zum Beispiel. Und dann hat man sich das, also dann war klar, das Kind erzählt so detailreich, irgendwas ist passiert, aber irgendwie it doesn't add up. Also es ist irgendwie, ein paar Punkte hören sich komisch an, aber die Details waren eben zu detailreich, um zu sagen, das hat er sich jetzt wirklich komplett ausgedacht. Am Ende kam dann raus, dass das der beste Freund von ihm war, der ein paar Jahre älter war, der mit ihm diese Sachen gemacht hat. Und er hatte fürchterlich Angst, natürlich seinen eigenen Freund zum Beispiel zu bezichtigen. Und diesen Mechanismus, den gibt es natürlich auch innerfamiliär. Also dass Kinder über eine Ersatzfigur erst mal berichten, bis man dann wirklich dahinter kommt, wer denn dahinter steht. Und es ist einfach wichtig, dass es diese, ja ich sag mal diese Kompetenzgruppen gibt auch in jeder Kita. Leute, die sich haben fortbilden lassen, die als Ansprechpartner zur Verfügung stehen. Es gibt die Insofas, die insofern erfahrenen Fachkräfte, mit denen man sich auch austauschen kann und auf die auch jeder einen Anspruch hat. Also in jeder Kita muss es diese Nummer geben, die du anrufen kannst, für eine für dich zuständige Insofa, mit der du dich austauschen kannst. Und ich glaube, dann kann man das auch erst mal ganz niedrigschwellig angehen und man muss nicht immer gleich so ein riesen Fass aufmachen wegen einem Bauchgefühl, einem Verdachtsmoment. Das ist wichtig.

Nadia Kailouli [00:25:07] Jetzt gehen wir noch mal zurück, ganz tief in die Familie rein, wenn man eben mehr als nur ein Verdachtsmoment hat, und zwar die Gewissheit, dass mein Partner dem eigenen Kind was antut. Wie gehen Mütter damit am besten um? Oder auch Väter? Wir müssen ja, also es gibt natürlich auch Täterinnen, nicht nur Täter. Aber bleiben wir mal bei dem Beispiel, wenn Mütter eben ihren eigenen Partner anklagen wollen.

Sonja Howard [00:25:36] Ja, da haben wir leider ein riesiges Problem in Deutschland, weil wenn dann Mütter genau das machen, was von meiner Mutter verlangt worden wäre damals, nämlich zu sagen, ich glaube meinen Kindern, ich glaube meiner Tochter und ich gehe jetzt die ganzen offiziellen Schritte einer Anzeige, einer Meldung beim Jugendamt und so weiter. Wir sehen uns aktuell mit dem Problem konfrontiert, dass Müttern dann sehr oft nicht geglaubt wird und dass ihnen unterstellt wird, vor allem, wenn schon eine Trennung auch stattgefunden hat, dass sie das machen, um ihrem Exmann zu schaden. Dann werden so Worte herumgeworfen wie Bindungsintoleranz, Eltern-Kind-Entfremdung. Da gibt es das Parental Alianation Syndrom, kurz PAS, das ist eine Fake-Wissenschaft, die von einem Mann erfunden wurde, der selber pädophil war. Und Deutschland ist nach wie vor durchdrungen mit dieser, ich sage es mal Hobbydiagnose, die tatsächlich auch in familiengerichtlichen Gutachten verwendet wird. Dann wird gesagt ja, die Frau betreibt Missbrauch mit dem Missbrauch. Das sind alles diese Schlagworte. Und das Problem ist natürlich in sehr vielen Fällen, dass du manchmal nicht mehr hast, als die Aussage eines Kindes. Wir haben aber auch sehr viele Fälle, in denen bereits Akten aus der Kita vorliegen, in dem das Kind bereits in der Kinderschutzambulanz vorstellig war, in dem Fachberatungsstellen mit involviert waren, in dem das Kind also nicht nur der Mutter gegenüber sich geäußert hat, sondern wirklich auch Fachleuten gegenüber und das Jugendamt dann trotzdem dichtmacht und sagt, die Mutter hat das Kind manipuliert. Und wie schief das gehen kann, das sehen wir in Fällen wie in Lügde und Bergisch Gladbach, wo die Mutter wirklich pathologisiert wurde, wo ihnen am Ende sogar teilweise das Sorgerecht dann entzogen wurde, wie in dem Bergisch Gladbach Fall, wo gesagt wurde hier, wir glauben nicht dem Kind, das sagt, ich möchte bei der Mutter bleiben, ich will nicht zu Papa. Wir glauben auch nicht der Mutter, sondern wir platzieren das Kind um, zum mutmaßlichen Täter. Und dieses, gerade zum Beispiel dieses PAS, das ist mittlerweile, in Kanada ist das verboten, das vor Gericht zu verwenden, in England, in Italien. In Deutschland wird das nach wie vor verwendet und da werden wirklich Kinderleben zerstört. Das Wichtige ist auch da, dass man sich die Fachleute ins Boot holt von von Anfang an. Ich meine, es gibt natürlich auch sehr gute Jugendämter und es gibt natürlich auch Familiengerichte, die sich mit Täter Strategien auskennen. Und so weiter und die, die dann wirklich auch unterstützen. Und wichtig ist immer, dass man dokumentiert, was einem wann aufgefallen ist, was das Kind wann gesagt hat. Wichtig ist, dass man sich dann auch mal mit Lehrern, mit Kita-Erzieherinnen austauscht. Was ist denn so eure Beobachtung, die Verlaufsentwicklung vom Kind? Gab es da Auffälligkeiten? Und dass es einfach wichtig ist, dass man als Mutter nicht sagt, hier, dein Papa ist böse. Weil das kann ein Kind in dem Moment, vor allem wenn es junge Kinder sind, können die das noch nicht begreifen.

Nadia Kailouli [00:28:46] Jetzt bist du ja Mutter von vier Kindern. Du bist selbst Betroffene von sexualisierter Gewalt. Du bist diejenige, die aufklärt, die Präventionsarbeit leistet. Kannst du oder gibt es deiner Meinung nach den ultimativen Tipp, wann man und wie man mit einem Kind darüber spricht? Das Ding ist ja, wir wollen ja vor allem auch präventiv sein und nicht erst mit einem Kind oder mit Täter und Täterinnen ins Gespräch kommen, wenn es passiert ist. Sondern wir wollen ja im besten Fall, dass es nicht mehr in diesem Ausmaß passiert, wie es das heute tut. Wann ist also der richtige Zeitpunkt zu sensibilisieren bei einem Kind?

Sonja Howard [00:29:24] Sobald das Kind so alt ist, dass es Worte versteht und man die Geschlechtsteile richtig benennen kann beim Waschen. So, das ist eine Vulva, das ist ein Penis. Und das ist schon mal ganz niedrigschwellig. Eine ganz normale, gesunde Sexualaufklärung kommt dann einfach so on the go mit. Ich habe das bei meinen Kindern auch so gemacht. Ich kann sagen, dass das sehr erfolgreich ist, wenn man nämlich das ablegt, dieses Schamgefühl, was ja sehr viele Erwachsene einfach noch mit dem Thema Sexualität allgemein verbinden. Viele können nicht mal ihre über Geschlechtsteile reden oder über den Geschlechtsakt reden, ohne rot zu werden. Das muss man einfach mal hinter sich lassen und sagen, das ist normal. Das sind alles normale Vorgänge, das ist unser Körper. Dazu gehört, dass man seinem Kind zum Beispiel, wenn es sich zwischen die Beine fasst, dass man dann auch nicht auf die Hand haut und sagt, das ist eklig, weil was vermittelt man dann dem Kind? Man sagt, dieser Körperbereich ist eklig, das Anfassen ist eklig. Das Kind merkt, okay, die Mama kann irgendwie mit diesem Teil von mir nicht umgehen. Das heißt, selbst wenn dann jemand kommt und mich dort anfasst, dann kann ich das der Mama nicht sagen, weil die findet das Thema ja eklig. Das speichert das Kind dann ab.

Nadia Kailouli [00:30:35] Ach so meinst du das, weil ich dachte gerade die ganze Zeit so ja, aber muss man das denn nicht? So weißt du, so denke ich dann gerade so, muss man nicht sagen so, das ist aber nicht gut so, aber damit eben nicht das Gefühl entsteht, so auch ganz normal, da kann man sagen meine Vulva ist ist mein Penis, da darf man mich ruhig anfassen. Weißt du, das dachte ich gerade so?

Sonja Howard [00:30:52] Nein, das kommt natürlich dann später dazu. Also, ich habe jetzt wirklich von Wickelkindern gesprochen, die dann die dann sich zwischen die Beine fassen und dann so kichern und so, das ist auch alles in Ordnung. Und dann der nächste Schritt ist natürlich zu sagen, hier, da darf ich dich anfassen zum Waschen, aber auch nur dann so, das sind deine, deine Körperteile, da darf niemand anfassen, ohne dass du das möchtest. Und dann ist es auch wichtig, zum Beispiel, wenn man das mitbekommt, dass Kinder Stichwort Doktorspiele, solange das im Einverständnis passiert und zwei Kinder aneinander irgendwie sich anfassen und jetzt nicht ein Kind sagt, ich möchte das nicht, dann soll man die Kinder bitte auch einfach in Ruhe lassen. Weil für Kinder, wir Erwachsenen sind die, die das komisch machen mit unserer Sexualitätsbrille, die wir aufhaben. Für Kinder ist das einfach Neugier und für Kinder ist ein Geschlechtsteil nichts anderes als eine Hand und ein Ohr. Und warum soll man denn da nicht anfassen dürfen und das mal erkunden dürfen? Dann ist es aber ganz wichtig zu sagen, hier, Erwachsene haben da nichts zu suchen. Und so kann man das machen, Schritt für Schritt. Und ich habe das bei meinen Kindern auch gemacht. Irgendwann, genau, wenn auch über, wird auch über die körperlichen Vorgänge dann natürlich, bei kleinen Jungs wird dann auch schon mal der Penis hart. Die bekommen mit, okay, Mama hat ihre Tage und dann einfach ganz normal drüber sprechen. Und irgendwann geht man natürlich dann auch und das kann man auch schon mit vier fünf Jahren machen, du darfst mir immer alles sagen. Immer. Und ich glaube dir. Und je älter die Kinder werden, umso detailreicher kann man werden und kann dann auch sagen, hier, egal was euch irgendjemand erzählt, von wegen, wenn du das deiner Mama sagst, dann passiert das und das, das ist Quatsch. Du kannst mir immer alles erzählen und es gibt keine Geheimnisse, die schlimm genug wären, dass du sie mir nicht sagen könntest. Und dann sind die Kinder gestärkt. Viele Menschen haben Angst, dass sie ihre Kinder zu ängstlichen Menschen erziehen, wenn sie sie aufklären. Aber das ist völliger Quatsch. Wir stärken unsere Kinder dadurch. Dadurch gehen sie selbstbewusst durch die Welt. Und dann haben wir Fälle wie meine damals 11-jährige Tochter, die nach Hause kam und erzählt hat, sie war mit einer Freundin im Bus unterwegs. Da war eine Gruppe junger Männer, die sie belästigt haben. Und dann hat sie gesagt, ja und ich bin dann vor zum Busfahrer gegangen, habe gesagt, dass wir da hinten belästigt werden, von dieser Gruppe junger Männer, dass wir bitte vorne sitzen möchten und dass er doch bitte auch ein Auge darauf haben möchte. Was für ein Selbstbewusstsein. In dem Moment wusste ich, daa habe ich auf jeden Fall alles richtig gemacht, weil das ist total cool. Und sie hat mir dann auch gesagt, meine Freundin, die war nur total eingeschüchtert, die hatte Angst. Aber ich habe mir gedacht, nee, so nicht. Und das ist genau die Haltung, die wir in unseren Kindern im besten Fall wach kitzeln können.

Nadia Kailouli [00:33:38] Ich finde das total, was du gerade gesagt hast, dass viele eher Angst davor haben. Ich hatte auch mit einem Freund, der auch ein Kind hat, darüber gesprochen und er sagte, och nee, ich möchte jetzt mit meiner Tochter aber auch nicht Angst machen. Aber das ist ein super Argument, man macht einem Kind dadurch keine Angst, man stärkt ein Kind dadurch.

Sonja Howard [00:33:56] Wir machen unseren Kindern doch auch keine Angst, wenn wir eine gesunde Verkehrserziehung machen.

Nadia Kailouli [00:33:59] Wir sagen ja auch bei Rot nicht über die Ampel gehen.

Sonja Howard [00:34:01] Wir erzählen denen doch auch, hey, wenn du einfach so auf die Straße rennst, dann kann ein Unfall passieren. Das ist nicht cool und dann kommst du das Krankenhaus. Trotzdem sind die meisten Kinder absolut selbstbewusst im Verkehr unterwegs, weil sie eben wissen, das sind die Gefahren, darauf muss ich achten. Bitte ganz entspannt angehen.

Nadia Kailouli [00:34:17] Also, ich bin keine Mutter, aber du gibst mir gerade so viel mit, für den Fall, dass ich eine werde. Vielen Dank dafür. Ich habe auch noch bei einem Satz von dir, da musste ich schmunzeln, aber so im überzeugten Sinne. Du hast gesagt wir sagen Kindern immer dieses so, aber nicht bei Fremden ins Auto steigen. Das ist so unsere Erziehungsmaßnahme, um auch um vor Gefahren aufmerksam zu machen. Dabei geht es ja eigentlich viel weiter, oder?

Sonja Howard [00:34:45] Ja, ich habe meinen Kindern auch gesag, hey, es gibt Erwachsene, die einfach keine guten Menschen sind, auch wenn sie sehr nett wirken. Und es gibt, das ist natürlich altersabhängig immer machen. Und irgendwann habe ich denen dann auch gesagt, diese Sexualität, über die wir immer sprechen, die dann unter Erwachsenen stattfindet, manche Erwachsene wollen das auch mit Kinder machen. Das ist aber überhaupt nicht cool. Und es kann leider auch jemand sein, den ihr total gern habt und den ihr eigentlich liebt und der immer, was weiß ich, Süßigkeiten mitbringt und mit dem ihr sonst immer viel Spaß habt. Aber sobald dieser Punkt kommt, bitte sofort mir Bescheid geben, weil das ist nicht in Ordnung. Okay Mama, Thema erledigt. Die denken dann da auch nicht mehr drüber nach. Und dass das Schöne daran ist, dass Kinder dann einfach so sensibel werden, dass sie sogar innerhalb ihrer peergroups, also Kinder und Jugendliche, die vertrauen sich ja zuerst immer untereinander an, wenn zu Hause irgendwas schiefläuft, wenn die dann was mitbekommen, die wissen schon, okay, hier geht es in die, in den Bereich Gewalt und so weiter. Das muss ich gar nicht alleine tragen. Da muss ich jetzt auch gar nicht große Tipps geben. Die kommen dann zu mir und sagen hier die und die Klassenkameradin hat mir das und das erzählt. Darf ich die denn mal einladen? Ich habe ihr erzählt, dass du im Kinderschutz aktiv bist und so und sie hat gesagt, vielleicht möchte sie mit dir mal drüber reden. Und dann geht das so ganz entspannt, dann ist das nicht mehr dieses rote Tuch. Sondern dann läuft das. 

Nadia Kailouli [00:36:07] Sonja, wir könnten ewig weiterreden. Das ist wirklich ein Thema, das füllt ganze Tage, Abende und ich finde das sehr, für mich bewegend tatsächlich, wie du sprichst und was du sagst. Und es macht auch was mit mir und das finde ich aber gut. Ich will noch auf einen letzten Punkt kommen und so habe ich gerade die Netflix Serie Maid angefangen zu schauen und ich bin sehr begeistert und ich habe gehört, das bist du auch.

Sonja Howard [00:36:31] Die Serie Maid ist deswegen so phänomenal gut, weil sie erstens auf einem Buch basiert, von einer Frau, die genau das erlebt hat. Und wenn ich mir anschaue, wie detailreich das umgesetzt wurde, beschleicht mich die Ahnung, dass auch die Produzentinnen, die da dran waren, dass die wissen, worum es geht. Weil in dieser ganzen Serie keine einzige Szene tatsächlicher körperlicher Gewalt vorkam. Es kam keine Vergewaltigung vor, nichts. Und trotzdem ist jedem, der diese Serie geschaut hat, am Ende klar, das war Gewalt. Und an diesen Punkt müssen wir kommen. Gewalt fängt ja schon viel, viel früher an, Gewalt fängt bei Manipulation an, bei Menschen klein halten, bei Menschen demütigen, bei Menschen ihren Selbstwert nehmen und das erleben ja auch sehr, sehr viele Kinder. Und Kinder, die keinen Selbstwert haben, sind die perfekten Opfer für Missbrauch. Also Kinder, die kein gesundes Selbstbewusstsein haben, sind die perfekten Opfer für Menschen, die sie egal in welcher Form ausnutzen wollen. Und das hat diese Serie so perfekt wirklich ins Detail auf den Punkt gebracht. Und so was bräuchten wir auch ganz dringend in Deutschland. In Maid geht es ja sehr um das amerikanische Familycourt System und alles auch und so was bräuchten wir unbedingt auch einfach mal aufs deutsche System angewandt.

Nadia Kailouli [00:37:48] Ja, Sonja Howard, jetzt haben wir hier mit einer mit einer Serie aufgehört, die Fiktion ist, aber absolut viel aus der Realität zeigt und vor allem auch das mit aufzeigt, was was du ganz persönlich erlebt hast, eben psychische Gewalt, aber eben auch sexualisierte Gewalt zu Hause in dem engsten Raum der Familie. Und ich finde es super, dass du uns so intensiv über deine Geschichte erzählt hast. Aber vor allem, dass du uns eben deine, ja, ich sage jetzt mal präventiven Einsichten so mitgegeben hast, wie man damit umgeht. Vielen Dank, Sonja Howard.

Sonja Howard [00:38:21] Vielen Dank, dass ich zu Gast sein durfte.

Nadia Kailouli [00:38:25] Also Sonja Howard hat mich einfach total bewegt und vor allem auch motiviert, dass wenn ich in Zukunft mit Freunden und Freundinnen darüber spreche, die zum Beispiel Eltern sind, mit ihren Kindern darüber zu sprechen, dass man eben keine Angst davor haben sollte. Und das ist für mich wirklich so das Mitbringsel aus diesem Gespräch. Sprecht mit euren Kindern, damit macht ihr ihnen keine Angst, sondern damit stärkt ihr sie, damit sie eben geschützt sind.

 

Mehr Infos zur Folge

Eigentlich sollte die Familie der sicherste Ort der Welt sein. Hier sollen sich Kinder geschützt und gut aufgehoben fühlen. Umso schlimmer, wenn dieser vermeintlich sichere Ort zur größten Gefahr wird. Sonja Howard hat das erlebt, sie wurde in ihrer Kindheit von ihrem Stiefvater missbraucht. Als sie 23 ist, zeigt sie ihn an – und ist von Prozess und Urteil maßlos enttäuscht. Doch statt mit dieser frustrierenden Erfahrung  zu leben, beschließt sie, ihre Geschichte öffentlich zu machen und sich dafür einzusetzen, dass sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht länger ein Tabu ist. 

Seit 2015 engagiert sie sich im Betroffenenrat des Missbrauchsbeauftragten, damit Ideen, wie Kinder besser geschützt werden können, auch Wirklichkeit werden. Ihr wichtigster Appell: Wir müssen unseren Kindern zuhören und ihnen glauben!

Im Gespräch mit Nadia Kailouli erzählt Sonja Howard, wie man Kinder richtig aufklärt, wie man lernen kann, Anzeichen für sexuelle Gewalt zu erkennen und wie sie es geschafft hat, ihre eigene Geschichte zu akzeptieren.

Mehr Informationen zu dem Thema und Hilfe-Angebote findet ihr hier:

Mehr Informationen über Sonja und ihre Arbeit gibt es hier: http://www.sonja-howard.com/ 

Für die Deutschen Kinderschutzstiftung Hänsel + Gretel hostet sie den Kinderschutz Podcast: https://haensel-gretel.de/kinderschutz-podcast 

Hier erfahrt ihr mehr über die Arbeit des Betroffenenrats.  

Die „PTBS”, von der Sonja spricht, wird hier erklärt.

Hilfe und Informationen zu sexuellem Missbrauch gibt es beim Hilfe-Portal und beim Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch:
https://www.hilfe-portal-missbrauch.de/startseite

einbiszwei – der Podcast über sexuelle Gewalt

einbiszwei ist der Podcast über Sexismus, sexuelle Übergriffe und sexuelle Gewalt. einbiszwei? Ja genau – statistisch gesehen gibt es in jeder Schulklasse in Deutschland ein bis zwei Kinder, die sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Eine unglaublich hohe Zahl also. Bei einbiszwei spricht Gastgeberin Nadia Kailouli mit Kinderschutzexpert:innen, Fahnder:innen, Journalist:innen oder Menschen, die selbst betroffen sind, über persönliche Geschichten und darüber, was getan werden muss damit sich was ändert. Jeden Freitag eine neue Folge einbiszwei – überall, wo es Podcasts gibt. Schön, dass du uns zuhörst.

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